Observatorien an “unmöglichen” Standorten
Von Timm Riesen
Berge sind unbezwingbar
Bis weit ins 19. Jahrhundert galten hohe Berge, wie wir sie in den Alpen vorfinden, als unbezwingbar. Viele Legenden und Geschichten rankten sich um die mystischen unerreichbaren Gipfel in eisiger Höhe. Mit den Erstbesteigungen der Jungfrau (1811), dem Mönch (1857) und dem Eiger (1858) wurden diese Mythen langsam entzaubert und unter den Alpinisten begann eine regelrechte Gipfeljagd. Auch das Matterhorn war ab 1857 deklariertes Ziel verschiedener Bergführer und Abenteurer, doch bis 1865 schlugen sämtliche Versuche fehl. Erstbesteiger Whymper, der die Legenden kannte, schrieb später in einem Bericht: „Die abergläubischen Bewohner der umliegenden Täler (…) sprachen von einer ruinierten Stadt auf dem Berggipfel, in welcher Geister lebten; sagten dir: schau nach oben! um die Türme und Mauern zu sehen, und warnten davor sich zu schnell zu nähern, nicht dass wütende Dämonen aus ihren unerreichbaren Höhen ihre Rache hinunter schleuderten zu unserem Spotte.“
Als mit der Zeit immer mehr Alpinisten in diese unwirtlichen Bergwelten vorstiessen waren immer mehr Naturforscher mit von der Partie. Louis Agassiz begann in dieser Zeit seine bahnbrechenden Eiszeit- und Gletscherstudien und auch die Erforschung der Gebirgsbildung und Faltung (z.B. Otto Ampferer) erlebte ein goldenes Zeitalter. Auch die Astronomie war schon immer an Orten mit guter Rundumsicht interessiert und es war schnell klar, dass höhere Standorte bessere optische Bedingungen aufweisen als tiefer gelegene, da man von der Höhe aus durch eine dünnere Luftschicht hindurch in den Weltraum schauen kann, als von weiter unten. So erkannte Alfred de Quervain (1879 – 1927), ein Schweizer Geophysiker und Arktisforscher, die Wichtigkeit von hochalpinen Forschungsstationen im Alpenraum und überzeugte die Politiker, dass die Vergabe von Konzessionen zum Bau von Eisenbahnen auf die Jungfrau und auf den Gornergrat nur mit entsprechenden Auflagen für den Bau späterer Forschungstationen erfolgen dürfe.
Mit dem Teleskop auf den Gletscher
Der Spatenstich zum Bau der elektrischen Eisenbahnen auf die Jungfrau und den Gornergrat erfolgte im Jahr 1896. Besonders das Erreichen des Jungfrauplateaus war sehr aufwändig, die Bahn führt durch den Eiger und durch den Mönch, und gelang nach 16-jähriger Bauzeit im Februar 1912. Der ursprüngliche Plan den Gipfel zu erreichen wurde aufgegeben und das Jungfraujoch wurde zur definitiven Endstation. Mit der Aufnahme des Bahnbetriebs wurde auf einen Schlag Zugang zu einem hochalpinen Standort geschaffen, versorgt mit Strom und Wasser, der nun erstmals nicht nur hart gesottenen Alpinisten vorbehalten war. Forschende begannen bald darauf in den 20-er und 30-er Jahren, ihre meteorologischen Messgeräte, astronomischen Teleskope und Ausrüstung zum Messen von kosmischer Strahlung nach oben zu schaffen, und richteten ein wissenschaftliches Laboratorium in einer Eiskaverne im Mönch ein. Einige lebten sogar für die Dauer einer Kampagne in Zelten auf dem Gletscher.
Alfred de Quervains Vision zum Beginn von hochalpiner Forschung in der Schweiz wurde zur Realität. Es folgten der Bau einer Forschungsstation (1930) und der Bau des Sphinx-Observatoriums (1936). Zusätzlich wurde 1930 eine internationale Stiftung für die hochalpine Forschungsstation Jungfraujoch (der Gornergrat stiess später dazu) gegründet, das heutige HFSJG (Hochalpine Forschungsstationen Jungfraujoch und Gornergrat). In den 50-er Jahren kamen astronomische Kuppeln und ein zusätzliches Stockwerk hinzu. Der Erfolg und das wachsende Interesse, auch besonders an hochalpiner Astronomie, war gross und führte zum Bau einer weiteren Forschungsstation mit Kuppeln in dem Türmen des Kulmhotels auf dem Gornergrat (1966).
Hochalpine Herausforderungen in heutiger Zeit
Heute sind immer noch beide Stationen in Betrieb und in gutem Zustand. Auf dem Jungfraujoch findet internationale Forschung in verschiedenen Bereichen, wie z.B. den Klima- und Umweltwissenschaften, aber auch der Medizin, der Glaziologie, und der Sonnenforschung statt. Auf dem Gornergrat betreiben die Universitäten Bern und Genf mit Partnern das astronomische Öffentlichkeitsprojekt „Stellarium Gornergrat“. Dabei stellen die hochalpinen Standorte unvermindert grosse Anforderungen an die vorhandene Hardware: Windspitzen von über 120 km/h, Temperaturen unter -25 °C, oder starker Schnellfall sind keine Seltenheit. Dazu kommen heftige Gewitter im Sommer mit möglichem Blitzschlag. Mit der heutigen weiterentwickelten Elektronik, die praktisch überall zum Einsatz kommt, hat sich diese Thematik sogar deutlich verschärft. Auf dem Gornergrat hinterliess ein mehrfacher Blitz letzten Sommer trotz professionellem äusseren- und inneren Blitzschutz eine Spur der Verwüstung, sowohl im Observatorium als auch im Hotel selbst. Ein Ausfall des Stellarium von mehreren Monaten und viele Stunden Zusatzaufwand waren die Folge davon. Es scheint fast, die von Whymper erwähnten Dämonen schleuderten immer noch etwas Rache und Spott in unsere Richtung. Wenigstens sind wir mit diesen Herausforderungen in guter Gesellschaft: Fast alle bedeutenden Observatorien sind an spannenden „unmöglichen“ Orten gebaut, so zum Beispiel die Teleskope in Hawaii, zuoberst auf einem schlafenden 4200 m hohen Vulkan der irgendeinmal aufwachen wird, oder in den hohen Bergen von Chile wo die Erde fast täglich bebt. In Chile gibt tatsächlich Teleskope, deren Einzelspiegel so konzipiert sind, dass sie ein Beben der Stärke 8 schadlos überstehen können. Nicht aber Regen! Regen kommt dort so selten vor, dass ein Wolkenbruch die Notfallplanung auslöst und Leute in Eile von Hand Plastik über den Spiegeln anbringen.
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