„Das Physikstudium ist ein Türöffner“
Viele junge Forschenden sorgen sich um ihre berufliche Zukunft. Im Newsletter InsiderS des Nationalen Forschungsschwerpunkts PlanetS stellen wir Physiker und Physikerinnen vor, die ausserhalb der Hochschule Karriere gemacht haben. Bettina Zahnd ist Leiterin der Unfallforschung und Prävention beim Versicherungskonzern AXA in Winterthur. „Wer Physik studiert hat, dem traut man vieles zu: logisches Denken, ein Flair für Zahlen, eine schnelle Auffassungsgabe. Das hilft enorm“, sagt die Mutter von zwei Kindern.
Während ihrer Diplomarbeit an der Universität Bern arbeitete Bettina Zahnd an der Rosetta-Mission mit. Heute lässt sie es buchstäblich krachen: Am 23. August 2018 finden auf dem Flugplatz Dübendorf die AXA Crashtests statt, die wie jedes Jahr ein vielbeachtetes Medienereignis sind. Die Leiterin der Unfallforschung und Prävention beim Versicherungskonzern steht dabei im Rampenlicht. Kommunikation ist ein wichtiger Teil ihrer Aufgabe, neben der Führungsarbeit, dem Erarbeiten von Strategien und dem optimalen Einsatz des Budgets. „Auch viel Überzeugungsarbeit gehört dazu, um jeweils das Projekt durchführen zu können, das mir richtig scheint“, erklärt Bettina Zahnd.
Eigentlich wollte sie Gymnasiallehrerin werden, um Teilzeit arbeiten zu können. „Schon im Kindergarten wusste ich, dass ich eine Familie gründen und Kinder haben wollte“, erzählt sie: „Ich dachte, dass dies nur im Lehrerberuf möglich sei, und wählte deshalb Physik als Studienfach“, – und auch weil sie sich besonders für Kosmologie und Raumfahrt interessierte. Gerne erinnert sie sich daran, wie sie als Diplomandin im Team von Astrophysikprofessorin Kathrin Altwegg am Bau des Massenspektrometers ROSINA-RTOF mitwirkte. In der Abteilung, in der Wissenschaftler, Ingenieure und Mechaniker zusammenarbeiteten, fühlte sie sich besonders gut aufgehoben.
„Ich wäre damals gern im Raumfahrt-Bereich geblieben“, erinnert sie Bettina Zahnd. Doch für ein Graduiertenprogramm bei der ESA erhielt sie eine Absage. „Ich bin ohne Vorbereitung zum Bewerbungsgespräch nach Noordwijk gereist und habe mich extrem schlecht verkauft“, sagt sie selbstkritisch. Auch habe sie sich damals nicht getraut, Blindbewerbungen zu schreiben. „Das würde ich heute rückwirkend anders machen“, sagt sie, obwohl sie mit ihrer jetzigen Aufgabe sehr zufrieden ist: „Mein Herz ist bei der Unfallforschung, der Präventionsarbeit. Diese Arbeit ist für mich sinnvoll, es ist das Richtige“, sagt Bettina Zahnd, die auch Präsidentin der AXA-Stiftung für Prävention ist und dem Stiftungsrat der Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) angehört.
Denken im Dreijahreszyklus
2004 hatte sie sich auf ein Inserat des Versicherungsunternehmens gemeldet und bekam den Job. „Das Studium war der Türöffner“, fasst Bettina Zahnd zusammen. Physiker genössen in der Geschäftswelt ein besonders hohes Ansehen: „Wer dieses Studium geschafft hat, gilt als fachlich kompetent, kann logisch denken, hat ein Flair für Zahlen und eine schnelle Auffassungsgabe.“ Wenn es dann noch menschlich stimme, sei die Sache gegessen. „Dieses Glück hatte ich.“ Mit ihrem Chef verstand sich die junge Physikerin auf Anhieb gut, er förderte sie und als er 2009 pensioniert wurde, sollte Bettina Zahnd die Leitung des Teams übernehmen. Doch sie zögerte. „Ich wollte gar nicht Karriere machen, sondern Kinder kriegen, wenn auch erst zu einem späteren Zeitpunkt“, erinnert sie sich. Da riet ihr eine Psychologin: „Wenn es für dich die nächsten drei Jahre stimmt, dann übernimm den Chefposten.“ Denn Männer würden in solchen Dreijahreszyklen denken und keineswegs annehmen, dass sie bei einer Zusage für den Rest ihres Lebens an diese Aufgabe gebunden seien.
Bettina Zahnd packte die Chance, vor allem auch weil ihr Ehemann sie unterstütze. Als sie 2012 ihr erstes Kind und zwei Jahre später das zweite bekam, blieb sie Leiterin der Unfallforschung und Prävention, reduzierte ihr Pensum aber auf 60 bis 70%, während ihr Mann, Ingenieur bei RUAG Space, 80% arbeitet. „Natürlich bin ich als Teamleiterin während der Woche immer erreichbar“, sagt die Mutter, die ihre Kinder auch mal in die Firma mitnimmt, wenn eine überraschende Sitzung angesagt wird: „Ich bin sehr flexibel und glücklich mit Familie und Beruf.“
Zu Bettina Zahnds Mitarbeitern zählen ein Fahrzeugtechniker, ein Gesundheitswissenschaftler, ein ehemaliger Automechaniker, ein Marketingleiter sowie Studierende. „Jeder in diesem diversen Team fordert mich auf eine andere Art heraus“, sagt die Chefin. Ihre Physikkenntnisse kann sie zwar kaum mehr direkt anwenden, doch das Grundwissen bleibt wichtig. „Ich kann den Mitarbeitern die richtigen Fragen stellen, auch wenn ich die Details nicht kenne“, erklärt die Physikerin. Sei dies beim Einbau von Telematik-Geräten ins Auto, wo es um Elektronik geht, oder bei den Crashtests, bei denen Impulssatz und Energiesatz die entscheidende Rolle spielen.
Was beim Aufprall passiert
Für die Crashs werden Autos aus dem Markt ausgewählt, meist 7-jährige Fahrzeuge mit hoher Kilometerzahl aber intakter Karosserie. Die während des Zusammenpralls aufgezeichneten Bilder und Daten ermöglichen die Rekonstruktion des Unfalls. Sie zeigen auch, wie sich die Fahrzeuge in den letzten Jahrzehnten stark weiterentwickelt haben. „Das Auto der 1980er Jahre hatte eine sehr weiche Struktur und wandelte beim Aufprall die Energie in viel mehr Deformation um, als das heute bei den harten Karosserien und ausgeklügelten Crashboxen der Fall ist“, erklärt die Expertin. Doch selbst wenn kaum ein Kratzer zu sehen ist, heisst dies keineswegs, dass nichts passiert ist. Die Crashtests beweisen: Die Energie, die nicht in Deformation endet, führt zu einer Geschwindigkeitsänderung des Autos, was die Menschen besonders belastet. Hier sollen Crashtests die Rolle der Sitze, Kopfstützen, Gurtsysteme oder Airbags aufdecken.
Dank der neuen Technologien nehme die Zahl der Unfälle ab, sagt Bettina Zahnd, dies treffe auch auf die strittigen Fälle zu. Während die Experten früher Unfälle mit Todesfolge rekonstruierten, waren es im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts vor allem Auffahrkollisionen mit Schleudertrauma, die für die Versicherungen teuer waren. Inzwischen ist dieses Thema weniger aktuell geworden. Heute rekonstruiert man auch Parkkollisionen, die sich wegen der vielen Sensoren ebenfalls als kostspielig erweisen können.
So spektakulär die Crashtests für den Laien sind, für die Fachfrau ist die Prävention das wichtigere Thema. So untersuchen Bettina Zahnd und ihr Team zum Beispiel, welche Fahrerassistenzsysteme mehr oder weniger Wirkung haben. „Unsere statistischen Daten zeigen, dass Einparkhilfen, die Piepstöne von sich geben, nicht viel helfen, während Notbremsassistenten, die selbstständig abbremsen, zu massiv weniger Unfällen führen“, fasst die Expertin zusammen. Denn Auffahrkollisionen sind häufig eine Folge von Unachtsamkeit. Sie ist überzeugt, dass sich Unfälle langfristig auch dank guter Kommunikationsarbeit verhindern lassen und freut sich besonders über die grosse Kampagne „Max der Dachs“, mit der die AXA-Stiftung für Prävention Kindern das richtige Verhalten im Strassenverkehr beibringen will.
„Ich bin überzeugt, dass man dann gut arbeitet, wenn man Freude hat am Thema“, sagt Bettina Zahnd: „Ich habe das Glück, so etwas gefunden zu haben. Dann ist es einfach, weiterzukommen.“ Auf jeden Fall sorge das Physikstudium für eine ideale Ausgangssituation. In Konzernen seien viele Führungskräfte Physiker, so auch der CEO und ein weiteres Geschäftsleitungsmitglied der AXA. „Ich kenne viele Leute, die etwas Technisches studiert haben und nachher Betriebswirtschaft dazu gelernt haben, wie ich selbst“, sagt Bettina Zahnd. Sie kennt aber niemanden, der nach dem BWL-Studium noch Physik studiert hat. (bva)
Categories: Internal Newsletter, Uncategorized